Österreichs Handbiker verdoppeln am Fuji Speedway innerhalb von 30 Minuten die bisherige Medaillenbilanz für das Paralympic Team Austria bei den Paralympischen Spielen in Tokio. Walter Ablinger jubelt zum zweiten Mal nach London 2012 über Gold, Thomas Frühwirth gewinnt wie schon vor vier Jahren in Rio de Janeiro Silber und steht mit Paralympics-Debütant Alexander Gritsch am Stockerl. „Wir haben uns natürlich Chancen ausgerechnet, aber ein kompletter Medaillensatz – das ist fantastisch, ein Traumtag“, jubelt ÖPC-Präsidentin Maria Rauch-Kallat über Edelmetall vier, fünf und sechs.
Jubel, Trubel, Heiterkeit in Rot-weiß-rot in der Boxengasse des Fuji Speedway. Die österreichischen Paracycler klatschten miteinander ab, beglückwünschten sich gegenseitig – und hatten dabei am Dienstagvormittag alle Hände voll zu tun. Denn …
… Walter Ablinger erfüllte sich in Japan den Traum von Paralympics-Gold im Einzelzeitfahren – in einem Sekundenkrimi. Nach 24 Kilometern lagen 1,89 Sekunden zwischen dem Oberösterreicher und dem Deutschen Vico Merklein. „Solche Momente erlebt man nicht oft, erst recht nicht, dass ich etwas mit Worten nicht beschreiben kann. Als sie mir im Ziel die Medaillenfarbe gesagt haben, konnte ich es zuerst nicht glauben. Ich bin einfach nur dankbar“, flossen beim 52-jährigen Rainbacher dicke Freudentränen.
„Die Maschine ist unglaublich gelaufen heute. In der ersten Runde habe ich noch dosiert, die zweite war hart und die dritte nur noch eine Quälerei. Ich weiß nicht, wie ich da drüber gekommen bin. Ich habe die Herzfrequenz abgeklebt, aber das war mehr als auf Anschlag“, kratzte Ablinger an seinen persönlichen 100 Prozent. „Wenn es keine 100 waren, dann waren es 99,8 Prozent. Mehr war nicht drin. Hätte ich die letzten 0,2 Prozent auch noch rausgeholt, hätte ich wahrscheinlich kotzen müssen“, sind die letzten Meter abgelaufen wie im Film.
Apropos Film: Die Stunden vor dem Rennen waren die ultimative Wiederholung. „Ich war total locker, habe gut gegessen und zwei Stunden vor dem Start mit meiner Vorbereitung begonnen. 35 Minuten autogenes Training, 45 Minuten Warm-Up auf der Rolle, Toilette. Im Prinzip das gleiche Schema wie 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro“, war die Routine einer von vielen Gold-Faktoren.
Ein anderer war das Team Ablinger, allen voran Trainer Christoph Etzlstorfer und Sportwissenschaftler Markus Kinzlbauer. „Sie haben das Hirn und ich die Muskeln dazu!“ Oder Ehefrau Marietta, die daheim „alles schupft“ – vom Ausräumen der Regenrinne bis zum
Rasenmähen. Und natürlich das Olympiazentrum auf der Linzer Gugl. „Alle machen einen super Job – von der Putzfrau bis zum Sportlandesrat.“
Vorerst offen bleibt, ob „der beste Walter Ablinger aller Zeiten“ seinen Job weitermacht oder doch am Höhepunkt abtritt? „Vielleicht mache ich Schluss. Vielleicht fahre ich noch bis zur WM in Kanada im nächsten Jahr weiter, da würde sich ein Kreis schließen. Ich werde das in den nächsten Wochen mit meinem Umfeld besprechen und vor allem meinen Körper entscheiden lassen.“
… Thomas Frühwirth gewann in der Klasse H4 seine zweite Paralympics-Medaille, musste sich wie schon vor fünf Jahren in Rio de Janeiro im Einzelzeitfahren nur dem Niederländer Jetze Plat geschlagen geben. „Ich wollte um Gold kämpfen und bin schon in der ersten Runde ziemlich am Limit gefahren. Dadurch war es ab der zweiten Runde nur noch brutal.“
So brutal, dass der Steirer bei Temperaturen um die 33 Grad und extrem hoher Luftfeuchtigkeit auf der anspruchsvollen Strecke („Schnell, steil, technisch!“) sogar koordinative Probleme bekam. „Ich habe nur noch eingeschränkt gesehen, musste aufpassen, dass es mich nicht aus den Kurven raushaut. Als ich über die Ziellinie gefahren bin, war ich komplett blau. Aber sch… drauf, ich habe die Medaille“, so der Ausnahme-Ausdauerathlet, der auch mehrere Ironman-Weltrekorde hält.
Dass er im Duell mit Dauerrivale Jetze Plat – der Niederländer gewann am Sonntag bereits Triathlon-Gold – den Kürzeren zog, spielte heute keine Rolle. „Gegen ihn war heute kein Kraut gewachsen, er hat einfach eine unglaubliche Laktathärte. Im Triathlon hat ihm der Diesel-Generator gereicht, aber heute hatte er Kerosin im Tank.“
Dass mit Alexander Gritsch sein Teamkollege ebenfalls aufs Stockerl raste, bekam Frühwirth erst mit, als der Tiroler neben ihm in der Mixed Zone parkte. „Genial! Ich freue mich total für ihn, weil ich seinen Weg in den letzten Jahren begleitet und ihn auch ein bisschen mitgezogen habe.“
… Alexander Gritsch schaffte bei seinen ersten Paralympics gleich die erste Medaille. „Ich bin sprachlos, habe Bronze gewonnen. Es ist unbeschreiblich“, arbeitete sich der Tiroler im Feld Konkurrent um Konkurrent nach vorne. „In der letzten Runde war ich schon ziemlich blau, habe nur noch geschaut, dass ich keine Fehler mache. Lieber ein, zwei Sekunden mehr investieren und dafür im Rennen bleiben.“
Im Ziel nach 24 Kilometern waren nur Jetze Plat und Teamkollege Thomas Frühwirth („Er ist wie eine Maschine an mir vorbeigefahren, wie wenn eine MotoGP-Maschine ein Moped überholt“) schneller. An diesem Tag egal, erst recht als er bei der Einfahrt zum TV-Interview von einem Volunteer darüber
informiert wurde, dass er auf Platz drei gefahren ist. „Ich habe diesem Rennen in den letzten Jahren alles untergeordnet, konsequent dafür gearbeitet“, hat Gritsch viel Zeit ins Mentaltraining investiert.
Und in seinen Körper. „Ich bin daheim gesessen und habe mich gefragt: Was will ich? Weiter um die Plätze 5 bis 10 oder ganz nach vorne fahren? Also habe ich von 2019 auf 2020 mit der Unterstützung meiner Frau über zehn Kilogramm abgenommen“, konnte er dank starkem Willen sogar auf den geliebten Schweinsbraten verzichten.
Das Bronze-Bier muss bis nach dem Straßenrennen am Mittwoch warten. Für das sich Gritsch nach dem Erfolg auch gute Chancen ausrechnet: „Ich werde mit so breiten Schultern am Start stehen, da kommt niemand vorbei!“